taz: Ohne Vorhang zu den Tätern

Ohne Vorhang zu den Tätern

SZENISCHE LESUNG Auch für „Im Lager hat man mich zum Verbrecher gemacht“ kooperieren der Fachbereich Geschichte und die Shakespeare Company. Diesmal Original-Schauplatz: der Sitz der Finanzsenatorin

Fünf Tage sind es noch, dann startet das Schiff, die „SS Marine Flasher“, nach New York. Nur für ihre Ausreise ist die KZ-Überlebende Feiga Bergmann nach Bremen gekommen, geht durch den Hauptbahnhof, als sie Margarete Ries wiedererkennt – als Kapo „Gretel“, der sie und die anderen Häftlinge in Auschwitz gefoltert und ihre Schwester getötet hat. Bergmann lässt Ries verhaften.

Das war am 13. Januar 1948. Die geschilderte Szene ist in den Protokollen der Verhöre von Ries nachzuvollziehen, die von der Denazification Division zwischen 1948 und 1949 durchgeführt wurden. Sie lagerten im Staatsarchiv, bis die Historikerin Eva Schöck-Quinteros sie mit ihren StudentInnen von der Uni Bremen durcharbeitete. Der Fall des KZ-Kapo Margarete Ries ist der mittlerweile fünfte Teil des Kooperations-Projektes „Aus den Akten auf die Bühne“, bei dem seit 2007 die Shakespeare Company die szenische Umsetzung übernimmt. Unter dem Titel „Im Lager hat man auch mich zum Verbrecher gemacht“ hatte die szenische Lesung am 27. März Premiere, wie zuvor auch am originalen Bremer Schauplatz.

Der ist diesmal das Haus des Reiches, der heutige Sitz der Finanzsenatorin. Ab 1934 war dort die Reichsfinanzverwaltung. Die Verhöre und der Entnazifizierungs-Prozess von Margarete Ries aber fanden statt, als das Haus nach dem Krieg der Sitz US-Militärregierung für Bremen und Bremerhaven war.

Anders als bei vorherigen Fällen, die im Bremer Landgerichts arrangiert wurden, ist bei den Aufführungen des Ries-Falles das Publikum von der Bühne nicht durch eine Balustrade getrennt. Nur ein paar Tische hat Regisseur und Schauspieler Peter Lüchinger in den ersten Stock des Treppenhauses gestellt. Das schafft eine Intensität, die dem Fall selbst innewohnt und die durch die hervorragend zurückgenommene Lesung der SchauspielerInnen noch verstärkt wird. Petra-Janina Schultz schafft es, Margarete Ries eine Stimme zu geben und dabei die Ambivalenzen ihrer Rolle nicht zu überdecken. Denn an der Frage der Schuldhaftigkeit Margarete Ries‘ hängt für das Publikum auch eine gebrochene Identifizierung: dass sie als „Funktionshäftling“ in Auschwitz Verbrechen begangen hat, als Kapo Privilegien hatte und verlängerter Arm der SS war, wird auch die Kammer in ihrem Spruch feststellen – und sie dennoch freisprechen.

Als „Asoziale“ kam Ries wegen „Arbeitsscheu und liederlichen Lebenswandels“ 1939 ins Konzentrationslager Ravensbrück, 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz. Sie wurde gefoltert und blieb auch als Kapo Gefangene, wie es selbst Feiga Bergmann, ebenfalls beeindruckend gelesen von Erika Spalke, bei ihrer Zeugenaussage feststellt.

„Sie war ein armer Mensch, was nicht ausschließt, dass sie brutal geworden ist“, so die Historikerin Schöck-Quinteros.

Die Umstände, die zu Ries Taten führten, werden erst nach und nach deutlich. Vor dem Investigator der Denazification Division, Alfred Goebel, spricht sie von der Brutalität und dem Sadismus des SS-Führers Salaban. Goebel schreibt später in seinem Bericht: „Nicht das Werkzeug, mit dem ein Mensch getötet wird, ist schuldig zu sprechen, sondern derjenige, der dieses Werkzeug benutzt.“ Die Benutzer jedoch sind die Eltern und Großeltern derer, die bei der Lesung zuschauen. jpb