Miguel Lawner: Zeichnungen als Zeugnis

Der chilenische Architekt Miguel Lawner (geboren 1928) ist ein engagierter und leidenschaftlicher Vertreter der vom „Bauhaus“ inspirierten Ideen der Sozialen Architektur. Seit den 1950er Jahren setzt er sich für das Recht auf Wohnraum und würdiges Wohnen ein und beteiligt sich an sozialen Bewegungen.

Nach dem Wahlsieg im September 1970 ernannte Präsident Salvador Allende Miguel Lawner, inzwischen Mitglied der Partido Comunista de Chile, zum Direktor der Gesellschaft für bessere Stadtentwicklung (Corporación de Mejoramiento Urbano), eine der vier Gesellschaften des Ministeriums für Wohnungsbau und Stadtplanung (Ministerio de Vivienda y Urbanismo). Während der Unidad Popular entstanden unter seiner Leitung 158.000 Sozialwohnungen. Seine Arbeit veränderte das Stadtbild Santiagos. Das Gebäude für die dritte Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) von 1972, heute das beliebte Kulturzentrum Gabriela Mistral (GAM), dürfte das bekannteste sein.

Nach dem Putsch am 11. September 1973 wurde Miguel Lawner zusammen mit anderen wichtigen Persönlichkeiten der Unidad Popular verhaftet und im Lager Rio Chico auf der Isla Dawson, einer in der Magellanstraße gelegenen Insel, interniert.

Lesen Sie den ganzen Artikel von Eva Schöck-Quinteros hier auf www.visual-history.de!

50 Jahre nach dem Putsch in Chile – neue Lesung

„Wenn ich das finstere Bild des Faschismus auftauchen sehe…!“ (S. Allende, 1973)

Am 1. Mai 1973 hält Salvador Allende auf der Plaza de la Constitución vor dem Regierungspalast La Moneda seine dritte Rede als Compañero Presidente zum Tag der Arbeit. Rund 200.000 Menschen sind Richtung La Moneda gezogen, um seine Rede zu hören. Allende beschreibt schonungslos die finstere Lage aufgrund der Einmischung großer Konzerne wie ITT und Kennecott, der USA und der chilenischen Rechten. Er hebt hervor, dass die Arbeiterklasse Gewalt, Terrorismus und Bürgerkrieg ablehne, und warnt vor dem drohenden Faschismus.

Vier Monate später, am 11. September 1973, stürzte das Militär durch einen brutalen Angriff den demokratisch gewählten marxistischen Präsidenten Allende und seine Regierung der Unidad Popular. Tausende Menschen wurden in das Nationalstadion und in andere Konzentrationslager verschleppt, gefoltert und ermordet. Unter ihnen die Stimme der Unidad Popular, der bekannte Musiker Victor Jara. Bis heute suchen Angehörige nach über 1.000 Verschwundenen.

Die zivil-militärische Diktatur unter General Augusto Pinochet konnte sich 18 Jahre an der Macht halten: Nicht zuletzt dank der Unterstützung der US-Regierungen (v. a. Richard Nixon, Henry Kissinger) und der CIA.

Die szenische Lesung führt in die 1970er Jahre, in den Kalten Krieg und die Folgen für Lateinamerika am Beispiel Chiles. Wie wurde über Präsident Allende und die Unidad Popular in den westdeutschen Medien berichtet? Wie bewerteten sie den Putsch und General Augusto Pinochet? Wie reagierten die Botschaft der Bundesrepublik, das Auswärtige Amt und die Regierung unter Kanzler Willy Brandt? Wie erinnern sich Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus Chile an diese ihr Land bis heute prägenden Ereignisse? Die Erinnerung spaltet Chile auch nach 50 Jahren noch immer.

Termine

11. September 2023 (Premiere)
17. Oktober 2023

jeweils um 19.30 Uhr im Theater am Leibnizplatz

Karten

Karten gibt es bei der bremer shakespeare company:
Telefonische Rservierung: 0421 / 500 333, Mo–Fr, 15–18 Uhr
oder online auf www.shakespeare-company.com

CHILE – Gastspiel in Berlin

Mittwoch, 7.6.2023, 18.00 h
Ibero-Amerikanisches Institut, Simón-Bolívar-Saal
Szenische Lesung
Aus den Akten auf die Bühne:
Chile – Auf dem Weg zu einer neuen Demokratie?
[Veranstaltungsreihe „50. Jahrestag des Putsches in Chile“]

Proteste von Schüler:innen gegen eine Erhöhung der Metropreise um 30 Pesos lösten in Chile im Oktober 2019 eine soziale Rebellion (Estallido social) aus. Aus der Kritik an 30 Pesos wurde schnell eine Kritik an der Politik der letzten 30 Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur. Die Rebellion richtete sich gegen die massive soziale Ungleichheit und mündete in die Forderung nach einer neuen Verfassung.Im von Eva Schöck-Quinteros (Universität Bremen) und Peter Lüchinger (bremer shakespeare company) entwickelten Geschichts- und Theaterprojekt „Aus den Akten auf die Bühne“ recherchieren Studierende des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bremen seit 2007 in Archiven nach Dokumenten, die von Schauspieler:innen der bremer shakespeare company in szenischen Lesungen auf der Bühne zum Sprechen gebracht werden. Das 18. Projekt nimmt auch aktuelle Stimmen aus Chile auf und spannt einen Bogen von den Anfängen des 20. Jahrhunderts zu den jüngsten Ereignissen. Es stellt die Frage, wie es nach dem „Nein“ (Rechazo) zum Verfassungsentwurf vom 4. September 2022 weitergeht.

Mit Simon Elias, Peter Lüchinger, Michael Meyer, Petra Janina Schultz und Kathrin Steinweg. Einführung: Eva Schöck-Quinteros 

Förderkreis des Ibero-Amerikanischen Instituts
Ibero-Amerikanisches Institut
In Kooperation mit:
Botschaft von Chile

Vortrag: Chile nach dem „Nein“ zum Verfassungsentwurf

Mit der Annahme des Verfassungsentwurfs hätte Chile die fortschrittlichste Verfassung der Welt gehabt. Frauenrechte, soziale Rechte, Teilhabe- und Mitwirkungsrechte der Bevölkerung sowie eine besondere Berücksichtigung indigener Rechte wären in einem Maße verfassungsrechtlich verankert worden, das ihresgleichen in der Welt gesucht hätte. Hätte.

Das eindeutige „Nein“ überraschte und schockte die progressiven Kräfte nicht nur in Chile. Bei einer Wahlbeteiligung von 85% lehnten 62% der Abstimmenden den Verfassungsentwurf ab. Wie konnte es dazu kommen? Dass die Desinformationskampagne der Rechten nicht allein für die Niederlage verantwortlich gemacht werden kann, ist inzwischen deutlich geworden. Dr. Eva Schöck-Quinteros analysiert in ihrem Vortrag die Gründe für das Scheitern und die aktuelle Entwicklung in Chile.

Mittwoch, 4. Januar 2023, 19.30 Uhr
Haus der Wissenschaft, Sandstraße 4/5, Bremen
Kleiner Saal, 1. OG, Eintritt frei

 

Chile: ¿en camino hacia una nueva democracia?

Info: Für die spanischsprachigen Besucher:innen unserer Lesung „Chile – Auf dem Weg zu einer neuen Demokratie“ stellen wir hier Informationen bereit.

Sobre la obra de teatro

La versión XVIII del proyecto “De los archivos al escenario”, numerosas veces premiado, se diferencia de las versiones anteriores en que esta vez se conduce a la audiencia no sólo hacia el pasado, sino también hacia el presente y se le informa sobre procesos que aún no han culminado. Este proyecto pudo llevarse a cabo sólo gracias a la intensa colaboración transnacional con chilenas y chilenos.

Debido a su gran riqueza en materias primas, este país al fin al mundo está estrechamente asociado a Alemania desde hace más de 100 años. Aunque históricamente la atención se centró principalmente en las relaciones comerciales bilaterales, en los últimos tiempos el foco en el país se ha centrado principalmente en la nueva constitución que Chile está a punto de elegir.

En 2019, las protestas estudiantiles en contra de un alza de 30 pesos en la tarifa del metro causaron en octubre del mismo año un estallido social. La crítica a los 30 pesos se convirtió rápidamente en una crítica a la política de los últimos 30 años, luego del término de la dictadura de Pinochet. La revuelta se focalizó en la enorme desigualdad social y desembocó en la demanda de una nueva constitución. El modelo económico neoliberal está anclado en la constitución de 1980 que proviene de la dictadura y hasta hoy está vigente. En ella se fundamenta la privatización de sectores fundamentales de la vida.

Mediante un plebiscito en octubre de 2020, una abrumadora mayoría de votantes eligió redactar una nueva constitución. La convención constitucional, elegida directamente, fue la primera convención constituyente del mundo en tener paridad de género. 17 de los 155 escaños fueron reservados para representantes de pueblos indígenas. En el plebiscito de salida de la constitución, el voto es obligatorio, por lo que el papel que jueguen los jóvenes y las mujeres para generar el cambio en Chile será de gran importancia.

El 4 de septiembre de 2022, las chilenas y los chilenos decidirán mediante un plebiscito, si aprueban o rechazan la nueva constitución.

Según los prognósticos actuales, el resultado tendrá una mínima diferencia. La derecha política se moviliza, entre otras cosas, con fake news, especialmente contra los indígenas. Su campaña para rechazar la constitución ha recibido un generoso apoyo de parte de los partidos de derecha, de grandes empresas y del jefe de la bolsa de comercio. Sobre todo el fracasado candidato presidencial de extrema derecha, José Antonio Kast, hijo de un nazi que huyó a Chile en 1945, lucha por un “Chile blanco” y en contra de un Estado “plurinacional”.

El desarrollo de este proceso está siendo observado atentamente desde todo el mundo, incluso desde Alemania. ¿Podría la nueva constitución afectar también la relación entre Chile y Alemania, la que por más de 100 años se ha basado principalmente en la explotación, producción y comercio de materias primas chilenas (salitre, cobre, litio, hidrógeno verde)? ¿Y cómo se posiciona el nuevo gobierno del presidente Gabriel Boric, un ex dirigente estudiantil, frente a la nueva constitución? ¿Cómo actúa frente a empresas multinacionales extranjeras y ante el conflicto con los mapuches en el sur de Chile?

Como siempre, la lectura escénica deja hablar a las fuentes en escena, pero a diferencia de las lecturas anteriores, esta vez el final es abierto.

 

CHILE – Premiere der neuen Lesung am 30. September 2022

“Die Kinder fordern bessere Renten für ihre Großeltern, die Großeltern eine bessere Ausbildung für ihre Enkel. Diejenigen, die nach der Diktatur geboren wurden, verlangen Gerechtigkeit für die verschwundenen Gefangenen. Wir fordern alles für alle, weil wir so nicht weiterleben können.”
Amanda Mitrovich, studentische Aktivistin, Feministin

Chile – Auf dem Weg zu einer neuen Demokratie?

Proteste von Schüler:innen gegen eine Erhöhung der Metropreise um 30 Pesos führten in Chile im Oktober 2019 zu einer sozialen Revolte (Estallido social). Aus der Kritik an 30 Pesos wurde schnell eine Kritik an der Politik der letzten 30 Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur. Die Revolte richtete sich gegen die massive soziale Ungleichheit und mündete in die Forderung nach einer neuen Verfassung.
In der bis heute geltenden Verfassung von 1980 aus der Diktatur ist das neoliberale Wirtschaftsmodell verankert. Hier wurde der Grundstein für die Privatisierung in elementaren Lebensbereichen gelegt.

In einem Referendum im Oktober 2020 stimmte eine überwältigende Mehrheit der Wähler:innen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Der direkt gewählte Verfassungskonvent war global die erste(!) verfassungsgebende Versammlung, die geschlechterparitätisch zusammengesetzt war. 17 der 155 Sitze waren für Vertreter:innen indigener Völker reserviert.

Am 4. September 2022 werden die Chilen:innen in einem Plebiszit entscheiden, ob sie der neuen Verfassung zustimmen. Nach derzeitigen Prognosen wird das Ergebnis sehr knapp ausfallen. Die Rechte mobilisiert auch mit Fake News vor allem gegen Indigene. Ihre Kampagne zur Ablehnung der Verfassung erhält von rechten Parteien, von Großunternehmer:innen und dem Chef der Handelsbörse großzügige Unterstützung.
Die Spannung steigt – nicht nur – in Chile. Die Entwicklung wird global aufmerksam beobachtet.

Könnte die neue Verfassung auch die Beziehung zwischen Chile und Deutschland beeinflussen, die seit über 100 Jahren vor allem auf Abbau, Produktion und Handel mit den chilenischen Rohstoffen basiert (Salpeter, Kupfer, Lithium, grüner Wasserstoff)?

Wie positioniert sich die neue Regierung unter Präsident Gabriel Boric, einem ehemaligen Studierendenführer, zur neuen Verfassung? Wie agiert sie gegenüber internationalen Konzernen und im Konflikt mit den Mapuches im Süden Chiles?

Die szenische Lesung lässt wie immer Quellen auf der Bühne sprechen und trotzdem ist alles anders:
Das Ende ist offen.

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Chile – Auf dem Weg zu einer neuen Demokratie?
Szenische Lesung der bremer shakespeare company

Freitag, 30. September 2022
Donnerstag, 20. Oktober 2022
Freitag, 28. Oktober 2022
Mittwoch, 30. November 2022
Mittwoch, 7. Dezember 2022
Dienstag, 10. Januar 2023

jeweils um 19.30 Uhr
Theater am Leibnizplatz, Bremen

Karten gibt es bei der bremer shakespeare company:
Telefonische Kartenreservierung: 0421 / 500 333, Mo–Fr, 15–18 Uhr
oder online auf www.shakespeare-company.com

Projektvorstellung „Chile“ am 5. Juli 2022

CHILE – AUF DEM WEG ZU EINER NEUEN DEMOKRATIE?

Dr. Eva Schöck-Quinteros, Dr. Heiner Fechner (Universität Bremen) und Peter Lüchinger (Shakespeare Company Bremen) stellen im Focke-Museum das 18. Projekt der Reihe: „Aus den Akten auf die Bühne“ vor, welches am 30. September seine Premiere feiert.
Das Projekt handelt von dem aktuellen Prozess zur neuen chilenischen Verfassung, da die alte noch aus der Militärdiktatur Pinochets stammt. Wirft aber auch einen Blick auf die (Kolonial-) Geschichte Chiles, die besonderen Beziehungen zu Deutschland und den Reichtum u.a Bremer Kaufleute durch den Salpeterhandel.

Im Anschluss findet noch eine Diskussion mit Dr. Eva Schöck-Quinteros und Dr. Heiner Fechner statt.

Dienstag, 5. Juli 2022, 18.00 Uhr, Focke-Museum, Bremen
Kosten: 7 €, ermäßigt 5€

Eine Stadt im Krieg – Lesung im Mai und Juni

„Plötzlich, wie über Nacht, ist das Gespenst eines Völkerkrieges zwischen den großen europäischen Nationen aufgetaucht. – Ein Weltkrieg. Weiß man, was das bedeutet?“ fragt am 28. Juli 1914 die Bremer Bürgerzeitung und erklärt nüchtern und präzise: „Gegen einen modernen Weltkrieg sehen alle früheren Kriege wie harmlose Streitereien aus. Nicht nur wegen der ungeheuer viel größeren Soldatenmassen und der Vervollkommnung der Mordwerkzeuge, sondern vor allem wegen der Wirkung des Krieges auf das Leben der Gesellschaft.“

Fünf Tage später, am 1. August 1914, ruft Kaiser Wilhelm II die allgemeine Mobilmachung aus. Der Belagerungszustand tritt in Kraft und das Militär übernimmt die Aufsicht über die öffentliche Ordnung, in Bremen hat das Stellvertretende Generalkommando des IX. Armeekorps in Hamburg Altona den Oberbefehl.

Wie schreibt sich der Krieg in das alltägliche Leben der Stadt ein? Welche Hoffnungen, Erwartungen, Ängste verbinden die Menschen mit dem Krieg? Wie verändert sich ihr Handeln durch den Krieg? Wie gestalten, erleben und erleiden sie die „Heimatfront“? Wie verändern sich die Beziehungen zwischen Männern und Frauen durch die Trennung, durch die Erfahrungen an Front und „Heimatfront“? Was bedeutet die Feminisierung der Stadt? Die Lesung lädt die Zuschauer zu einer Zeitreise ein. Orte, Personen und Ereignisse, Entwicklungen und Konflikte von vor hundert Jahren werden sichtbar und durch überlieferte Dokumente zum Sprechen gebracht: Die Nagelung des eisernen Roland neben dem Neuen Rathaus, das Sammeln von „Liebesgaben“ für die Soldaten oder der Schützengraben mit Offiziersstand „Zum Stillen Frieden“ auf dem Stadtwerder sind Beispiele für die Mobilisierung der „Heimatfront“. Die „Volksgemeinschaft“ auf der Bühne und der Bremer Theaterskandal im September 1914 mit der Entlassung des russischen Tenors Juan Spivak, das Kriegsgefangenenlager im Hafen und die Reaktionen der Bevölkerung auf die „feindlichen Soldaten“, die Tagebuchblätter eines Dompredigers, die Proteste vor der Lebensmittelkommission, die Briefe zwischen Anna und Robert Pöhland und vieles mehr zeigen, wie der Krieg in der Stadt allgegenwärtig ist und alle Bereiche des Lebens in Bremen durchdringt.

Eine Stadt im Krieg – Bremen 1914–1918
24. Mai 2022 und 16. Juni 2022, je 19.30 Uhr, Theater am Leibnizplatz
Infos und Karten: www.shakespeare-company.com

„Eine ganz normale Frau“ (nachtkritik.de vom 9. März 2022)

Jens Fischen hat für das renommierte Theatermagazin Nachtkritik.de am 9. März 2022 unsere Lesung „Im Lager hat man auch mich zum Verbrecher gemacht.“ Margarete Ries – vom „asozialen“ Häftling in Ravensbrück zum Kapo in Auschwitz besprochen. Zehn Jahre nach der Premiere ist die Lesung noch immer gefragter Bestandteil unseres Repertoires.

Eine ganz normale Frau

Die Projektreihe „Aus den Akten auf die Bühne“ der Bremer Shakespeare Company arbeitet an der Schnittstelle zwischen Geschichtswissenschaft und Dokumentartheater. Nun, zehn Jahre nach der Premiere, wird der Fall einer Frau auf die Bühne zurückgeholt, die im NS-Regime vom Opfer zur Täterin wurde.

Von Jens Fischer

9. März 2022. Kraftvoller Schauspieler-Gang über die Bühne, schmucklose Verkündigung von Ort, Zeit und Handlung: „14. Januar 1948, Haus des Reichs, Bremen, Deutschland, Vernehmung von Fräulein Margarete Ries.“ Sie wurde kurz zuvor von einer jüdischen KZ-Überlebenden im Bremer Hauptbahnhof als bestialischer Auschwitz-Kapo „Gretel“ wiedererkannt und angezeigt, anschließend festgenommen. Sie soll Mithäftlinge nicht nur geschlagen, sondern mit „Vergnügen“ auch zu Tode geprügelt oder lebendig den Wachhunden zum Fraß vorgeworfen haben. Das weist Ries gegenüber dem deutschen Entnazifizierungsbeamten Alfred Göbel zurück. Nachdem Kronzeugin Feiga Berkmann zu Details befragt wurde, nimmt US-Offizier Harold Oppenheim die Angeklagte ins Kreuzverhör.

Eine unheimlich intensive Szene. Aber kein Dramatiker hat sie geschrieben. Es handelt sich um das Original-Verhörprotokoll, das für die Bühne den großen Vorteil hat, bereits dialogisch verfasst worden zu sein. In ihrer Aufführungsreihe „Aus den Akten auf die Bühne“ beleuchtete die Bremer Shakespeare Company seit 2007 bereits 18 solcher Fundstücke. Behandelt wurden Themen wie die Revolution 1918/19, „Lästige Ausländer – Ausweisungsverfahren in den 20er Jahren“, der Konkurs des Unternehmens Nordwolle, die koloniale Vergangenheit Bremens, „Zigeunerpolitik“ im Deutschen Kaiserreich, deutsche Polarforschung bis hin zu „Staatsschutz, Treuepflicht, Berufsverbot“. Mehr als 20.000 Besucher zählte bisher der künstlerische Leiter Peter Lüchinger, der an diesem Abend den Alfred Göbel spielt.

„Nicht einmal mit den Augen gezuckt.“

Das Konzept: Gerade die Geschichte der Nazizeit verlebendigen, weil inzwischen fast alle Zeitzeugen verstorben sind. Die puren Worte der Dokumente sollen im Mittelpunkt stehen, also weitgehend die Mittel der Bühnenkunst verweigert werden. Am Weltfrauentag kam im Theater am Leibnizplatz nun die Ries-Geschichte zu Gehör. Bis auf wenige Tische und Stühle ist die Spielfläche leer, was als Verhörbüro-Bühnenbild funktioniert. Keine Regieideen, Ausstattungs- und Lichteffekte, Bewegungen im Raum oder Fremdtexte lenken vom O-Material ab. Aber es werden auch nicht nur einst niedergeschriebene Texte prononciert vorgelesen, sondern zurückgenommen emotionalisiert und vielleicht gerade deswegen umso klarer und eindringlicher gespielt.

Die Darsteller gehen in die Haltung der Figuren und gestalten sie mit Mimik und Sprachgestus aus. Sehr schön etwa der US-amerikanische Akzent im insistierenden Fragenfuror des sehr präsenten Michael Meyer. Mit kühler Beiläufigkeit die Traumata und Gerechtigkeitswut versteckend gibt Erika Spalke diverse Zeuginnen. Mehr als nur eine Entwicklung deutet Petra-Janina Schultz in der Ries-Rolle an. Erst nimmt sie selbstsicher genervt die Vorhaltungen entgegen, blickt dann ungerührt schweigend ins Leere und hat „nicht einmal mit den Augen gezuckt“, wie Oppenheim sich empört und resümiert: „Ich werde froh sein, wenn Sie hängen.“ Aber so nach und nach quälen die Frager hinter der naiven Unschuldsmaskerade erste Andeutungen der Wahrheit heraus. Und so verändert sich auch die Wahrnehmung. Während ihrer emotionslosen Zurückweisung ist man sofort vom dezivilisierten Verhalten der Kapo-Ries überzeugt, was dann vom Mitgefühl abgefedert wird, das zu ihren privaten Erzählungen erwächst.

Ihre eigene Verhaftung geschah, weil sie als „arbeitsscheu“ galt, Auslandssender hörte und einen Mann mit ihrer Geschlechtskrankheit ansteckte. Aufgrund dieses „liederlichen Lebenswandels“ wurde Margarete Ries ins Frauen-KZ Ravensbrück deportiert, der Gruppe der „Asozialen“ zugeteilt und all dem Grauen des Lagerlebens ausgesetzt. Irgendwie würdevoll wirkt es dann, wenn sie mit lieblicher, demütig runtergedimmter Stimme vorsichtig schuldbewusst und reuewillig erscheint. Aber den Eindruck bald wieder zerstört, indem sie Verantwortung für ihr Handeln verneint und sich als ein hilflos unter dem „Zwang der SS“ stehendes Opfer inszeniert, dem es nur um Lebenserhaltung ging.

Durch alle Hinter-, Vorder-, Quer und Untergründe

All das ist Geschichtswissenschaft live. Der Blick zurück ist keine dröge Angelegenheit mehr, die uns in Kenntnis setzt, was längst vorbei ist, um zu verstehen, was jetzt so passiert. Die stummen Zeugnisse auf Aktenpapier ohne viele geschmäcklerische Zutaten theatral zu verköstigen, hat die am Institut für Geschichtswissenschaft der Uni Bremen dozierende Eva Schöck-Quinteros initiiert. In zweisemestrigen Seminaren suchen sich jeweils etwa 20 Studierende ein Thema und erkunden dessen bremische bis regionalgeschichtliche Bedeutung. Forschend lernen nennen sie das. Monatelange Arbeit vor allem im Staatsarchiv Bremen ist die Folge, zusätzlich müssen Hinter-, Vorder-, Quer und Untergründe recherchiert werden. Die werden nur in den Begleitbüchern veröffentlicht, auf der Bühne ist Kontext- und Zusatzmaterial verpönt. Der Deal mit dem Theater: Die Abschriften aller erschlossenen Dokumente, meist so um die 1.000, werden Peter Lüchinger für die dramaturgische Arbeit, Spezifizierung des Themas, sowie eine dramatische Zuspitzung überlassen. Es gilt, aus Prozessunterlagen, Tagebüchern, Zeugenaussagen, Anordnungen, Interviews, Zeitungsartikeln und Briefen etwa zweistündige Abende zu komponieren. Die Vorlagen dürfen sprachlich nicht verändert, nur gekürzt und montiert werden.

Dokumentartheater in relativ reiner Form also. Allerdings fertigt Lüchinger aus den Ries-Akten eine zunehmend redundante Fassung. Für diese Lesung wollten die Studierenden etwas über die Entnazifizierung „ganz normaler“ Frauen herausfinden – und entdeckten, dass sie auch ihren Beitrag zum Holocaust geleistet haben. Beispielhaft funktioniert das im Fall Ries. Geradezu zeitlos wirkt er in der Ambivalenz der Täter-Opfer-Problematik – wie Ries vom KZ-Häftling zur Peinigerin und Mörderin ihrer Mitgefangenen und schließlich zur stets hilfsbereiten Biederfrau der 1950/1960er Jahre wurde. Steckt in jedem von uns ein potenzieller Schlächter? Zumindest sei jeder verführbar, gerade wenn er ums Überleben kämpft, legt der Abend nahe. Und betont: Bestraft wird das nicht. Das Gericht spricht Ries frei, weil sie ohne Tätervorsatz und ohne NS-politische Überzeugung als nur willenloses Werkzeug der Vorgesetzten fungierte. Das ist ein Freispruch für alle Schreibtischtäter, Mitläufer und Behaupter, man habe lediglich Befehle ausgeführt. Was gerade in unseren Tagen staatlich angewiesenen Mordens in der Ukraine noch verstörender klingt.

Online unter: https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=20727

Der „Radikalenerlass“ – Eva Schöck-Quinteros im Interview

Mit dem Radikalenerlass vor 50 Jahren standen Anwärter des öffentlichen Dienstes unter Generalverdacht. Noch heute sind die Folgen kaum aufgearbeitet worden. Historikerin und Projektleiterin Dr. Eva Schöck-Quinteros sprach am 28. Januar 2022 im Interview mit buten un binnen zu dem Thema.

Das Interview ist in der ARD-Mediathek und bei buten un binnen zu sehen: https://www.butenunbinnen.de/videos/eva-schoeck-quinteros-talk-100.html