Zeitgenössische Presse

Jahrgang 1907. Der Prozeß Kolomak

von Gabriele Tergit

Der Staatsanwalt wollte die Öffentlichkeit ausschließen, aber es half nichts. Der Staatsanwalt versucht das Leben zu ändern, aber es hilft uns allen nichts. Altes Eisen sind wir alle gegenüber der Generation, die 17-jährig war 1923. Und Eltern gegenüber, die nicht wissen, was tun, die da denken an verlorene, ungenossene, eigene Jugend und es diesem Süßen, Schwellenden gönnen, lustig zu sein; die nicht prügeln und hinauswerfen, sondern lieben und verstehen wollen.
Auf der einen Seite steht der Meister Anton, der die Welt nicht mehr versteht, auf der anderen wahrscheinlich – denn der Prozeß ist noch nicht zu Ende – Frau Kolomak, die verdeckt, verbirgt und schützen will.
Auf der einen Seite steht jenes Walter von der Vogelweidesche ewige, hohe Lied der Minne; auf der anderen das Wort des Gesetzes und der Theologie: Geschlechtsverkehr.
Jahrgang 1907 steht vor Gericht, der Jahrgang der Lisbeth Kolomak. Sie sind bildhübsch, kurzhaarig, schlankbeinig, keck und selbstbewußt. Die Freundin Margot ist eine Barmaid, kalt und wohl stark verdorben. Aber die andern. Ja, sie arbeiten, ja aber sie haben ihren Freund, ja sie gehen in die Bar, ja sie tanzen, ja sie kommen um eins nach Haus. Lisbeth ging weiter, kein Zweifel. Vielleicht wird sie jedem gesagt haben, daß er der zweite ist. Vielleicht gestand sie mehr, das Wahrscheinlichste ist, daß es gar kein Diskussionspunkt war. Denn wie stellen sich die jungen Männer zu dieser veränderten Ethik? Auch sie sind von einer neuen Ethik. Auch sie trennen nicht mehr Liebe des Herzens und des Körpers, anzubeten die eine, zu verachten die andere, zu trennen in Liebe ersten und zweiten Ranges. Sie wagen es, dankbar zu sein. Sie lieben und bekennen, und nun stellt sich heraus, daß die Sprache zurückgeblieben ist hinter neuen Begriffen. Der eine will sagen, daß die Mutter nichts wußte von ihrer, nun ja, wie drückt man es aus, von ihrer illegitimen Beziehung. Und hilflos sagt er: „Die Mutter hat nicht gewußt, daß ihre Tochter schlecht war, das heißt, Herr Richter, damit Sie mich nicht falsch verstehen, für meine Überzeigung war sie nicht schlecht.“ All diese jungen Leute haben die verwegene Terminologie der Ibsen-Zeit an sich.
Die jungen Mädchen waren eine wilde Gesellschaft: 1923 machten sie eine Spritztour nach Berlin. Sie setzten sich aufs Motorrad, sie fuhren im Auto davon, sie tanzten. Arbeiten? Verdienen? Der Dollar rollte. Die Mädchen, auch Lisbeth nicht, sie haben kein Herzeleid mehr, sie werden nicht sitzen gelassen. Und die jungen Männer? Sie sind es, die halten wollen. Sie wollen bergen und schützen. „Ich war so enttäuscht“, sagt der eine. „Es ist zum Bruch gekommen, weil sie immer wieder ins Tivoli ging; ich war so enttäuscht“, sagt der dritte. In diesem Prozeß sind die Männer die Leidenden, die Weichen, die Liebenden, und die Mädchen, soweit sie noch dastehen, um zu reden, die Klaren, Kühlen, Harten, lebenstüchtiger nach der Fülle des Daseins, als die jungen Leute, die einfach und gut die eine lieben.
Und was tun die Eltern? Sie dulden. Als Lisbeth und Käthe L. wieder einmal fort sind, setzen sich Frau Kolomak und Frau L. zusammen und weinen. Die armen Mütter sind schon froh, wenn ihnen die Fräulein Töchter mitteilen, wo sie sind. „Es ist doch besser“, sagt Frau Kolomak, „ich behielt sie bei mir im Hause, damit sie den Haushalt machte, als ich ließ sie ganz fallen.“ Und als der Chauffeur dasteht mit dem Auto des großen Herrn vor dem winzigen Schusterhaus, spricht die Mutter mit dem Chauffeuer. „Meint er’s ehrlich?“ sagt sie mit ihrer Terminologie von 1890. Und als dann das Mädchen kommt, schön und jung, da merkt die Mutter, daß diese Jugend nicht mehr fragt nach dem Ehrlichmeinen, sondern davonfährt im Auto. Da steht sie da, zuckt die Achseln und sagt zum Chauffeur: „Was soll man dagegen machen?“
Und das ist es, warum dieser Prozeß bisher so unsinnig erscheint: „Es kreißt eine Welt, und mit dem Mäuslein eines Prozesses will man Linderung schaffen.“
Keuschheitsforderung, bislang Grundlage aller Erziehung, zersprengt eine wilde Zeit, Eltern stehen hilflos daneben. Sind nicht Strafer, sondern Freunde. Strafer, nicht Freunde zu sein, fordert das Gericht von ihnen, betrachtet als Entlastung der Kolomaks die Mitteilung eines Zeugen, daß Lisbeth gezüchtigt wurde. Gleichsam als sei schon dies ein Beweis für Ehrbarkeit. Ist schon einmal die Anklage erhoben, die erhoben wurde, so ist das ja wirklich entlastend, aber was ist das belastend? Bisher nur die Aussage der Freundin Margot, der Bardame, der einzigen, die hart die Prostitution streift, daß von den 25 Dollars des Amerikaners Frau Kolomak einen Mantel und einen Vorleger kaufte. Sonst wird unendlich viel gefragt: „Was hörten Sie von Lisbeth?“ Und ein anklageschriftlich anerkannter Silberfuchs wird ein Ziegenpelz, und der eine Nachbar sagt: „Vor der Berliner Reise stand sie auf der Straße rum und schwatzte, und nach der Berliner Reise ging sie in noblem Zeuge fort, und heimkommen gesehen hat man sie dann nie.“
Und eine andere sah, daß sie geschminkt und gepudert war, und eine dritte glaubt, daß sie einmal getorkelt habe.
Nichts ist interessant an diesem Prozeß als dies, daß er angestrengt wurde.

Gabriele Tergit: Jahrgang 1907. Der Prozeß Kolomak, in: Berliner Tageblatt (16.6.1927)

Totentanz in Bremen

von Sling

Man seufzt: Kinder von heute. Man darf hinzuseufzen, auch die Eltern sind inzwischen sexuell aufgeklärt. Die Mütter wußten freilich immer schon einigermaßen Bescheid, und die Männer hatten stets eine feine Witterung, wenn es irgendwo Gutes zu holen gab. Aber das verhinderte sie nicht, Sittengesetze zu schaffen zum Schutze des eigenen Besitzes an Frauen und Töchtern. Dennoch nahmen sie jede Gelegenheit wahr, in die Hürden der Nächsten einzubrechen.
Wurden sie demaskiert, so schoben sie würdevoll die Verantwortung auf das Weib, das verführerische oder das kupplerische.
Besonders vergnüglich, wenn man die wirkungsvollen Formen des Strafprozesses anwenden konnte. Waren die Untergründe politische, so nannten sie das Verfahren Gerechtigkeit, und empfanden sie selbst die Ungerechtigkeit ihres Tuns, so entschuldigten sie sich mit Politik.
Und wieder hat man die Schultern eines Weibes gefunden, auf die man Verantwortung bürden kann. F r a u K o l o m a k.
Wenn schon, hätte man auch den Mann anklagen können. Das verhinderte die männliche Solidarität. Aber sieh, unter den Richtern sitzt eine Frau, eine Schöffin, und verkörpert die Erschütterung des Mannestums in seiner Gottähnlichkeit.
Da liegt nun diese so besonders schöne, vornehme, kluge, tüchtige Stadt Bremen, erfüllt von dem reizvollsten deutschen Menschenschlage in sommerlicher Heiterkeit und macht so einen Prozeß. Wird man hier von einer der zahllosen Radfahrerinnen überfahren, so hat man die Genugtuung, seinen Genickbruch einem besonders anmutigen Wesen zu verdanken. Weniger gefährlich für den Hals, gefährlicher für das Herz der Aufenthalt in den stillen Promenaden, wo die Jugend ausschwärmt, ihre wohlgebildeten Beinchen wie zum Tanze setzt, frisch, heiter, gesund und – hoffen es gern – unschuldig; aber in aller Unschuld sich des werdenden Weibtums schon bewußt. Sinkt der Abend, so geht es in die Dielen. Da mischt sich allerhand. Das Gericht lehnte die Vernehmung einiger Caféhausbesitzer ab, weil es als wahr unterstellte, daß ihre Lokale auch von anständigen Mädchen besucht werden. Und es lehnte die Ladung eines Friseurs ab, weil es weiterhin als wahr unterstellte, daß Pudern und Schminken kein Kennzeichen der Unanständigkeit sei.
In den Bars aber mischt sich abends das tanzlustige Kleinbürgertum mit Lisbeth Kolomaks Freundinnen, die – wie Lisbeth – keinen anderen Ehrgeiz haben als den, in den Dielen zu sterben.
Und was tagsüber im Kolomak-Prozeß sitzt, aussagt, schwört, tanzt abends, heiter, vergnügt und vergißt die tote Freundin.
Und alle diese Mädchen haben merkwürdigerweise Mütter, einige sogar Väter, und die hübscheste der Zeuginnen, ein zauberhaftes Geschöpf, voller Intelligenz und Sicherheit, das vielleicht noch zur Bühne gehen wird und – käm’s nur auf die Augen an – eine zweite Bergner werden könnte, hat zum Vater einen Bremer Strafanstaltbeamten, kommt dennoch jeden Abend mit der letzten Straßenbahn heim. Hoffentlich. Und der Vater weiß, daß sie tanzt, aber er weiß auch, daß er mit dem Kind nicht so verfahren kann wie mit seinem Strafgefangenen. Der Kerkerschlüssel ist sein. Aber den Hausschlüssel muß er hergeben; er ist sexuell aufgeklärt.
Was will die gute Stadt Bremen? Ihre Reputation retten? Als ob sie das nötig hätte! Schafft sie deshalb die Prostitution in ihren Mauern ab? Kann sie nicht. Und weil sie es nicht kann, duldet sie Bars und Dielen und erhebt Vergnügungs- und Einkommensteuern. Sie kann nicht anders, keine Stadt kann anders, und wenn sie sich noch so klar darüber wäre, daß diese Einnahmen aus derselben Quelle fließen, aus der Frau Kolomak einen Kokosläufer für sechs Mark gekauft haben soll. Werden nun alle Mütter verhaftet, die es noch nicht über sich brachten, ihr Kind auf die Straße zu setzen?
Und das ist es, was den Totentanz um Lisbeth Kolomak zum Gegenteil einer Ehrenrettung für die Behörde macht. Hätte es sich in der Voruntersuchung klar ergeben, daß die Kolomak eine besonders schlechte Mutter war, daß Liederlichkeit und gemeiner Erwerbssinn in ihrem Hause herrschte – man hätte in einer einstündigen Gerichtsverhandlung Gründe genug produziert, um eine solche Rechtsbrecherin nach dem Gesetz ins Zuchthaus zu bringen. Aber man kann nicht daran vorbeikommen, daß Frau Kolomak einen ganz anderen Ruf genießt, daß die Frau i h r e f ü n f K i n d e r n a c h ü b e r e i n s t i m m e n d e m U r t e i l v o n L e h r e r n u n d G e i s t l i c h e n g a n z b e s o n d e r s g u t e r z o g e n h a t, auch ihre älteste Tochter, die in der Schule in Betragen und Leistung die besten Zensuren hatte, bis sie eines Tages etwas tat, was sie, im Vertrauen bemerkt, auch nicht persönlich erfunden hat. Und weil die Sache so unangenehm kompliziert liegt, da veranstaltet man einen Prozeß von einem Ausmaß, als ginge es um einen Hals, setzt drei Tage zur Verhandlung an, öffnet dem Schöffengericht den Schwurgerichtssaal.
Aber was sehe ich? Dieser Staatsanwalt, der aus lauter Feinheit dem Verteidiger nicht einen Blick zuwirft, aber um so zorniger die H o r d e v o n J o u r n a l i s t e n a n b l i t z t, die er am liebsten von vornherein aus dem Saale gewiesen hätte und die zu sprechen, ja aufzutrumpfen wagen, als er einen kleinen Verstoß benutzen will, ein ihm unbequemes Mitglied der Bremer Presse aus dem Saale zu jagen. Und dieser vornehme Staatsanwalt i s t v o l l s t i l l e n, s c h ö n e n V e r t r a u e n s a u f d i e A u s s a g e n h ä m i s c h e r K l a t s c h b l a s e n – der Halb- und Viertelsdamen.
Es tut einem in der Seele weh. Die Welt, der er – läge der Prozeß nur umgekehrt – es wehren würde, den Saum seines Talars zu streichen, behandelt er heute in chevaleresker Delikatesse. In der niedrigsten Dirne entdeckt er Züge der Ehrbarkeit und Wahrheitsliebe. Ein ganzer Staatsanwalt! Und ich juble: Ein Bundesgenosse im Kampf gegen den Meineid! Hat nicht Gertrud W. gesagt, s i e h a b e d r e i M o n a t e h i n t e r e i n a n d e r b e i K o l o m a k s g e s c h l a f e n? Und er ruft sie noch einmal vor: „Sie wollten sagen, daß sie dauernd bei Kolomaks gewohnt haben, daß Sie aber zwischendurch natürlich auch mal die Nacht woanders zugebracht haben. Sie haben ja wohl auch manche Nacht in Hotels oder auf der Reise zugebracht?“ G a l a n t e r w u r d e n o c h k e i n e m W e s e n d i e s e r A r t e i n e g o l d e n e B r ü c k e ü b e r d i e M e i n e i d s s c h l u c h t g e b a u t.
Und doch kein Bundesgenosse. Einem Entlastungszeugen der geschworen hatte, unbestraft zu sein, hält er am zweiten Tage vor, daß er wegen Beleidigung im öffentlichen Verfahren zu 300 Mark Geldstrafe verurteilt sei, und kündigt ein Meineidsverfahren an. (Zum Spaß natürlich, denn er weiß sehr gut, daß es unmöglich ist, denn der Zeuge hat seine bedenkliche Aussage noch vor dem Urteilsspruch rektifizieren können.)
Und Frau Kolomak? Niemand wird behaupten, daß sie sich dem schweren Erziehungsproblem gewachsen zeigte.
Aber welche Ungeheuerlichkeit, das Einzelschicksal eines Menschen aus dem Milieu und der Epoche zu reißen, es unter vollkommen veränderten Zeitumständen auf die Wage der Justiz zu werfen? Diese kleine Bürgerin, die niemals das Treiben der bunten Welt gesehen hat und die auf ein paar hergewehte Dollarnoten wie auf eine göttliche Sendung blickte, wie wir es alle, alle, alle getan haben. Und die dann nicht fragt, vielleicht nicht fragen wollte. Und die vielleicht aus anderen Gründen auch ohne Fragen verstand. Es sind doch nun mal die kleinen Leute, aus denen sich die Prostitution rekrutiert. Ist nicht schon die Verwandte oder Bekannte diesen Weg gegangen? Man hat’s bedauert, man hat’s getadelt, aber man hat auch der Verlorenen nicht die Hand zum Gruß geweigert. Und dann das eigene Kind. Es tanzt, es gleitet abwärts. Aber es ist die eigene Tochter, Weib, erfüllt von demselben Trieb wie die Mutter, als sie Mutter wurde. Nur entartet, übersteigert, nicht mehr zu halten.
Der Geistliche sagt: „ D i e a u ß e r o r d e n t l i c h e S c h ö n h e i t w a r i h r e G e f a h r“.
Und Vater Kolomak? Trägt vielleicht wirklich keine Mitschuld, aber er kannte keine anderen Pflichten, als den Kampf für Mutter und Tochter, unerschrocken und treu. Kein Meister Anton, der die Welt nicht mehr versteht. Kolomak versteht sie schon, er ist aufgeklärt. Aber er darf nicht die letzte Wahrheit sagen, ohne seine und seiner Kinder bürgerliche Existenz zu vernichten.
Und bürgerlich wollen wir bleiben, denn um die Bürgerlichkeit tanzen wir. Wir alle, vom ersten Staatsanwalt bis zur letzten Bardame, und wir haben vielleicht sogar recht, weil es momentan und vermutlich für längere Zeit noch das sicherste ist.

Sling: Totentanz in Bremen, in: Vossische Zeitung (18.6.1927)

Maß für Maß in Bremen

von Carl von Ossietzky

Leopold Jeßners Staatstheater hat soeben Shakespeares Kuppler- und Bordellkomödie in einer achtenswerten Einstudierung herausgebracht. Die Kritik rühmt der Regie besonders nach, sie habe die heute beliebte Mode vermieden, klassische Stücke in der Gewandung dieser Saison zu geben, sondern sich streng an das dem Inhalt entsprechende elisabethanische Kostüm gehalten. Der Zufall will, dass zur selben Zeit auch in Bremen ein altmodisches Kupplerstück neu einstudiert herauskommt, leider nicht im Stadttheater, sondern vor einer Strafkammer, und als Darsteller erscheinen nicht Herren mit Mühlsteinkragen und Wollperücken und Damen in Reifröcken, sondern Bürger und Bürgerinnen unserer hellen Gegenwart. Aber das Thema ist wie bei Shakespeare: Rigorismus toter Buchstaben gegen die Natur.
Frau Kolomak ist zu acht Monaten Gefängnis verurteilt worden. Schon der Zuchthausantrag des Staatsanwalts gab bösen Vorgeschmack. Aber nicht der Ausgang ist bei diesem Kriminalfall entscheidend, sondern wie verhandelt wurde.
Die Justiz muß automatisch jeder Anzeige, jedem Veracht nachgehen. Sie musste auch den Verdacht gegen Frau Kolomak auf seine Stichhaltigkeit prüfen. Das ist ihre Pflicht. Aber mag eine Pflicht noch so peinlich sein, niemandem ist verwehrt sie menschlich und mit einem gewissen Aufwand von Geist zu tun. Die bremer Strafkammer aber beginnt ein umständliches Interrogatorium, dessen Unmöglichkeit überall außerhalb dieses Saales schallende Heiterkeit hervorgerufen hätte. Hier wird ein kleines Gelächter am Pressetisch schnell durch eine scharfe Rüge erstickt.
Wahrscheinlich hätte Frau Kolomak drei Töchter ungehindert verkuppeln können, wenn sie nicht die Todsünde begangen hätte, eine Behörde zu ängstigen. Ihr Buch „Vom Leben getötet“ hat die Apparatur der Sittenpolizei der Öffentlichkeit preisgegeben. Keine Behörde vergisst eine Beängstigung. Schnell sind die Sbirren der Sitte mit ihren Recherchen da: Verdacht, die Tochter verkuppelt zu haben. Aus Klatsch und Nachbarinnenfeindschaft wächst die Anklage, als deren Kronzeugin eine Prostituierte figuriert. Jeder Privatmann, der auf sich hält, würde sich schämen, seine Sache so flankiert zu wissen. Nur Vater Staat, der ein überpersönliches Autoritätsprinzip zu wahren hat, kann es sich erlauben, mit solchen Hilfstruppen zu erscheinen.
Hier soll nicht ein Plaidoyer für Frau Kolomak vorgetragen werden. dieser Prozess erschüttert nicht durch sein Material von Schuld oder Unschuld, sondern durch die Aufdeckung von sozialen Tatsachen, die stärker sind als menschliche Charaktere. Das ist eine herzlich alte Erkenntnis und alle Menschen sehen so, nur das Gericht sieht nicht. Das Gericht will einen Schulderweis bringen und übersieht darüber die Wirklichkeit. Es weiß nicht, wie die Menschen aus der Schicht der angeklagten Frau leben. Es weiß nichts von der eigenen Moralität dieser Schicht. Dieses Gericht kennt nur ein vor zweitausend Jahren in einem bescheidenen Distrikt Vorderasiens entstandenes Sittengesetz, das auch durch den neuen Strafgesetzentwurf bestätigt wurde. Das Gericht unterstellt bremer Proletariermädel kategorischen Imperativen, die sich eher für Heroinen verstaubter Jambendramen eignen als für lebende Menschen. Das Gericht fällt Werturteile über das Liebesleben von Arbeitertöchtern, aber es weiß nichts von dem dumpfen proletarischen Stadtmilieu, nichts von der warmen Sehnsucht junger Dinger herauskommen: immer am Rand der Prostitution, manchmal einen Schritt darüber. Das Gericht kennt nur ein imaginäres Sittengesetz und heischt ein Sühneopfer für dessen Verletzung. Ist es die Tochter nicht, die durch eine zu heftig geratene Salvarsanspritze von weiteren Gelegenheiten zum Sündigen befreit worden ist, dann die Mutter, weil sie von einem Liebessold der Tochter vielleicht ein paar Mark eingestrichen hat. Eine Frau Landgerichtsrat würde in ähnlicher Situation vielleicht rufen O Schmach! O schnöder Sündenlohn! Die Proletarierfrau steckt seufzend die paar Mark ein. Kuppelei ist ein typisches Verbrechen armer Leute. Kuppelei gehört zur Wohnungsnot. Es wird ziemlich unmöglich sein, der Inhaberin einer Zehnzimmer-Wohnung nachzuweisen, dass sie ihre Tochter verkauft.
Weltfremdheit feiert Orgien. „Wussten Sie, dass Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?“ hat, der so gefragt, nicht einmal selbst zum Herrenverkehr eines Mädchens gehört? „Duldeten Sie, dass Ihre Tochter sich schminkt?“ Und fast wäre ein Friseur zitiert worden, um das Gericht zu belehren, dass nach der Mode von heute fast alle Frauen sich schminken. Der Herr Staatsanwalt lenkt ein: „ Es mag sein, dass die amerikanische Sitte oder Unsitte des Gesicht-Bemalens an sich nicht unsittlich ist …“ Wie das herauskommt: „Amerikanische Sitte oder Unsitte…“, wie das herauskommt, giftig zensurierend, ein Millionenvolk gleichsam um ein paar Grade sittlich herabstoßend! Hier führt eine unsichtbare Hirnbrücke zur politischen Justiz. Auch im Schminktöpfchen und Lippenstift der Mädel steckt ein Stück Landesverrat. In dieser Verwerfung „amerikanischer Sitten“ tanzen unter der Schwelle des Bewusstseins Wilsons vierzehn Punkte, rasseln die Ketten von Versailles, und aus ungelüftetem Gefühlsplunder stäuben schwarz-weiß-rote Zikaden.
Doch es hieße das Thema viel zu eng abstecken, wollte man die Art dieser Richter einfach mit politischer Voreingenommenheit deuten. Sie sind ja nicht gegen die Republik, Demokratie oder Sozialismus. Sie sind gegen die Zeit. Sie sind ebenso gegen kurzes Haar und kurze Kleider wie gegen die Weimarer Verfassung. Sie sind gegen die neue Selbständigkeit der jungen Mädchen ebenso wie gegen den ´Potemkin´ oder gegen George Grosz. Denn sie sind gegen die Zeit. Sie schützen einen Zustand, den es nicht mehr gibt. Sie schützen eine patriarchalische Moral, die der Krieg niedergelegt hat, und über deren Trümmer heute seidenbestrumpfte Beinchen lustig tanzen und gelegentlich stolpern und versinken. Die nächste Generation wird schon viel sicherer tanzen.
Nicht der Kampf um das Konkordat, der Kampf gegen die Justiz ist unser Kulturkampf. Wir danken den Regisseuren der bremer Kupplerkomödie, dass sie uns das wieder einmal so überaus deutlich gemacht haben. Dieses Gericht über eine Mutter, die in ihrer armen Behausung in langen Nächten die mühsamen Schriftzeichen ihres toten Kindes nachgemacht hat, gehört zu den ärgsten Herausforderungen unseres Gegenwartsgefühls. In jenem schmalen Büchlein zuckt eine verlorene Seele noch einmal wie ein kleines Flämmchen auf und erlischt. Ein religiöses Jahrhundert hätte diese Frau Kolomak vielleicht als Hexe verbrannt. Aber um sie mit dem Kuppeleiparagraphen zu justifizieren, dazu war schon der moderne Rechtsstaat notwendig. Wir aber fühlen, wie die Zeit wieder wächst und die überlieferten Symbole klein werden. Die majestätische Themis von einst ist zur tristen alten Vettel geworden. Wir wollen sie nicht durch die amerikanische Sitte oder Unsitte des Gesichts-Bemalens zu restaurieren versuchen. Keine Reformen, die kaum das Antlitz betupfen. Sie gehört in die Schreckenskammer zu den Requisiten toter Jahrhunderte. Wir wollen ein Recht schaffen aus unserer Zeit, aus unserm Kopf, aus unserm Blut.

Carl von Ossietzky: Maß für Maß in Bremen, in: Die Weltbühne (21.6.1927)