Projekt

Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?
Der Fall Kolomak. Ein Bremer Sittlichkeitsskandal der 1920er Jahre.

Im Mittelpunkt der szenischen Lesung steht der Fall Kolomak, der große Sittenskandal im Bremen der 1920er Jahre. Am 15. Juni 1927 eröffnete das Schöffengericht den Prozess gegen die „Schustersfrau Elisabeth Kolomak“ wegen Kuppelei, begangen an ihrer 1924 verstorbenen Tochter Lisbeth. Die Hauptverhandlung im Schwurgerichtssaal des Landgerichts dauerte drei Tage, über 40 Zeugen hatte der erste Staatsanwalt geladen, sogar ein Lokaltermin im Haus der Familie Kolomak in der kleinen Meinkenstraße Nr. 3 wurde nach einem langen Sitzungstag noch anberaumt. Das Delikt der Kuppelei, (d.h. Gewährung oder Verschaffung der Gelegenheit von außerehelichem Geschlechtsverkehrs) und dieser große Aufwand der Justiz – das passte für viele zeitgenössische Beobachter/innen nicht zusammen. Während in anderen Städten spektakuläre Mordprozesse oder politische Strafprozesse für Aufsehen sorgten, war es in Bremen der Fall Kolomak, der die Hansestadt ins Rampenlicht der reichsweiten Öffentlichkeit rückte.
Am Anfang der Geschichte stand eine literarische Sensation, ein Bestseller der 1920er Jahre. Im Dezember 1926 erschien im Herder-Verlag unter dem Titel „Vom Leben getötet“ das Tagebuch eines siebzehnjährigen Mädchens. Es enthielt massive Vorwürfe gegen die Behandlung geschlechtskranker junger Mädchen und Frauen durch die Sittenpolizei und die Krankenanstalt. Das Buch deckte nach Meinung vieler Kritiker auf, welchen Gefahren junge lebenslustige Mädchen in der Großstadt ausgesetzt waren und wie leicht sie auf die schiefe Bahn geraten konnten. Bremen wurde als Ort des Geschehens, Lisbeth Kolomak als Verfasserin identifiziert. Das Tagebuch öffnete vor allem bürgerlichen Leser/innen eine unbekannte Welt. Zwischen der Veröffentlichung des Tagebuchs und der Verhaftung der Mutter Elisabeth Kolomak wegen Kuppelei vergingen nur wenige Wochen. Die Deutsche Liga für Menschenrechte bot schon Anfang Februar 1927 an, ihr einen Verteidiger zu stellen. In der wochenlangen Untersuchungshaft gestand Elisabeth Kolomak, dass sie selbst das Tagebuch nach dem Tod ihrer Tochter verfasst habe.
Auf den Titelseiten großer Tageszeitungen und der Boulevardpresse, der Presse der Arbeiterbewegung und des katholischen Rheinlands wurde der „Bremer Sittenskandal“ mit deutlichen Schlagzeilen prominent platziert: „Zur Dirne gestempelt! Totentanz in Bremen! Die Anklägerin auf der Anklagebank! Racheprozess gegen Frau Kolomak! Die große Streitfrage: Hat sie sich geschminkt?“ Die großen Stars der Berliner Gerichtsreportage (Sling und Gabriele Tergit), reisten an. Carl von Ossietzky und der gesellschaftskritische Zeichner Eric Godal verfolgten neben rund 30 Journalisten aus dem In-und Ausland den Prozess. Sogar im fernen Santiago/Chile wurden Leben und Sterben der Tochter Lisbeth in El Mercurio von einem jungen in Paris lebenden Poeten kommentiert. In Bremen selbst tobte eine Presseschlacht sondergleichen zwischen der Bremer Volkszeitung und ihrem Wortführer Alfred Faust auf der einen Seite und den Bremer Nachrichten und deren Chefredakteur Georg Kunoth auf der anderen Seite. Noch über 20 Jahre später wurde an den „Kolomak- Skandal“ ausführlich in der Reihe „Kriminalfälle, die Bremen erregten – aus den Polizeiakten“ in den Bremer Nachrichten erinnert.
Die szenische Lesung führt in das Nachtleben Bremens in den 1920er Jahren und zu den Vergnügungsstätten vom Astoria über das Atlantic zum Tivoli. Sie zeigt, welches Verhalten von jungen Frauen erwartet wurde. Auf der Anklagebank saß auch die durch Krieg und Inflationszeit veränderte Moral zwischen den Geschlechtern, wie nicht nur Carl von Ossietzky vermutete:
„Sie [die Richter] sind ebenso gegen kurzes Haar und kurze Kleider wie gegen die Weimarer Verfassung. Sie sind gegen die neue Selbständigkeit der jungen Mädchen … Sie schützen einen Zustand, den es nicht mehr gibt. Sie schützen eine patriarchalische Moral, die der Krieg niedergelegt hat, und über deren Trümmer heute seidenbestrumpfte Beinchen lustig tanzen und gelegentlich stolpern und versinken. Die nächste Generation wird schon viel sicherer tanzen.“
Im ersten Teil der Lesung wird aus der vielleicht längsten Debatte der Bremischen Bürgerschaft vorgetragen. Bis weit nach Mitternacht diskutierte die Bürgerschaft insgesamt über sieben Stunden leidenschaftlich über Sitte und Moral am Beispiel der Lebensweise von Mutter und Tochter Kolomak. Im zweiten Teil wird der Prozess mit Unterlagen aus dem Staatsarchiv und der Berichterstattung in der Presse rekonstruiert. Für die Berufungsverhandlung wurde Justizrat Johannes Werthauer, einer der renommiertesten Strafverteidiger Berlins von der Deutschen Liga für Menschenrechte hinzugezogen. Er ging aus dem „Rededuell“ – so berichtete die Presse – mit dem Staatsanwalt eindeutig als Sieger hervor.
Das Projekt „Aus den Akten auf die Bühne“, die bundesweit einmalige und erfolgreiche Kooperation zwischen Geschichtswissenschaft und Theater, ist Bestandteil des Schwerpunktes „Geschichte in der Öffentlichkeit“ des Masterstudiengangs im Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bremen. Studierende aus diesem Projekt haben intensiv Archiv- und Literaturrecherchen betrieben, stellen das Material der Lesung für die bremer shakespeare company zusammen, entwickeln die Website des Projekts und beteiligen sich an der Werbung. Zu der Lesung erscheint ein umfangreicher Begleitband, der mit Beiträgen der Studierenden, zahlreichen Dokumenten und Abbildungen den Zuschauer/innen die Facetten des Skandals vermitteln wird.
Die Präsidentin des Landgerichts Bremen unterstützt die Veranstaltung und stellt den Schwurgerichtssaal als „Bühne“ zur Verfügung.

Die Moral der Geschichte fasste der Berliner Journalist Heinz Pol zusammen:
„ Jemand reißt den Vorhang über Geschehnisse fort, die – Hand aufs Herz! – jeden Tag zu Dutzenden in jeder Stadt sich ereignen. Nur daß man’s nicht erfährt, daß niemand seine Stimme erhebt und anklagt. Dies eine Mal in Bremen opponierte eine Mutter: Der Vorhang fällt und eine ganze Stadt, ein ganzes Moralsystem gerät aus dem Häuschen. Untersuchungen, Vernehmungen, Erklärungen, Dementis, Protokolle, Debatten, Anträge, Verhaftungen. Soviel Lärm um ein kleines syphiliskrankes Mädchen? Da muß wohl noch viel mehr faul sein, als selbst die tapfere Frau Kolomak, Waschfrau in Bremen, in ihren kühnsten Dichterphantasien geahnt hat.“