Spurensuche

Auf den Spuren von Johann Geusendam – Eine Suche in Akten und Archiven

Meinem Vater war ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn eigen, für den er letztlich wohl auch mit seinem Tod bezahlen mußte. Als im Jahre 1908 auf den Stuhlrohrfabriken, wo er untergekommen war, ein Streik ausbrach, gab es bei ihm kein Zögern, er machte mit und wurde wohl auch so etwas wie einer der Wortführer, obwohl er erst 22 Jahre alt war. Die hohe Obrigkeit griff natürlich sofort ein und verwies ihn des Landes. Als kurze Zeit später mein Bruder geboren wurde, hielt man es für vernünftiger, den Ausweisungsbefehl wieder aufzuheben, schon um der Fürsorge eventuelle Kosten für den Unterhalt von Mutter und Kind zu ersparen.
(Wilhelm Geusendam. Herausforderungen. Kiel 1985, S. 124.)

Nahezu jeder Mensch hinterlässt Spuren in Archiven – häufig ohne dies zu wissen. Archive sind Wissensspeicher der Gesellschaft – sie sind ihr „papiernes Gedächtnis“ (Pierre Nora), zunehmend auch ihr digitales. Wie umfangreich die Überlieferung zu einem Menschen ist, – Schriftgut aus Behörden, privater Nachlass, Sammlungen – hängt von vielen Faktoren ab. Arbeiter wie Johann Geusendam tauchen in Archiven, wenn überhaupt, meist nur auf, wenn sie auffällig wurden, in Konflikt mit dem Staat geraten sind oder sich nicht entsprechend der herrschenden „Normalität“ verhalten haben.
Fragen, die uns während der Arbeit an dem Projekt begleiteten, waren: Was können uns einzelne Stationen im Leben einer Person über politische und gesellschaftliche Verhältnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Bremen und darüber hinaus erklären? Kann eine Biografie wie die Johann Geusendams einen Zugang zum Verständnis seiner Zeit öffnen? Weshalb interessieren wir uns überhaupt für die Lebensgeschichte von Johann Geusendam? Die Suche nach den vielen Puzzleteilen, die in Archiven zur Biografie eines Menschen liegen, kann ein komplexes Netz von Suchwegen ergeben. Im Folgenden werde ich die einzelnen Orte vorstellen, an denen wir größere oder kleinere Funde zu Johann Geusendam entdeckt haben. So wie sein Lebensweg verschiedene Orte passierte, sind auch die Informationen zu seinem Leben quer über die deutsche und zum Teil auch niederländische Archivlandschaft verstreut.

Jeder Mensch ein Fall, jeder Fall eine Akte

Ausgangspunkt unserer Recherchen war der Aktenbestand 3–A.10. im Bremer Staatsarchiv. Er umfasst 365 Beschwerdeakten von Ausländern und Ausländerinnen. Sie haben in den Jahren zwischen 1880 und 1956 beim Bremer Senat Widerspruch gegen ihre Ausweisung aus Bremen erhoben – jeder Mensch ein Fall, jeder Fall eine Aktenmappe. Die Zahl der insgesamt aus Bremen Ausgewiesenen liegt weitaus höher, ist aber nur noch zum Teil ermittelbar, weil keine genauen Statistiken vorliegen und viele keine Beschwerde gegen ihre Ausweisung eingereicht haben.
Die meisten Akten im Bestand 3-A.10. enthalten relativ wenige Schriftstücke. Denn die „lästigen“ Ausweisungsvorgänge sollten nach dem Wunsch der Bremer Behörden zügig und ohne großes Aufsehen ablaufen – was sie in der Regel auch taten. Die umfangreiche Akte „3-A.10. Nr. 186 Johann Geusendam“ fällt aus dem Rahmen. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass dieser Ausweisungsvorgang öffentliches Aufsehen erregte und umstritten war.
Geusendam wurde 1908 das erste Mal ausgewiesen. In der Bürgerschaft machte die SPD 1909 die Praxis der Ausweisungen an seinem Beispiel zum Thema ohne allerdings seinen Namen explizit zu nennen. 1922 beschäftigte sich die Bremische Bürgerschaft fast das ganze Jahr mit seiner Ausweisung. 1931 dagegen war die Ausweisung der Familie Geusendam nur noch sehr kurz Gegenstand der Debatte.
Neben einer ganzen Reihe von biografischen Informationen (Immigration aus den Niederlanden im Alter von vier Jahren mit seinen Eltern, Ehe und gemeinsame Kinder mit Katharina Cordes, Arbeitsplätze und politische Aktivitäten in Bremen) enthält die Akte auch einige interessante Aspekte zur Geschichte Bremens. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Projektgruppe ‚Aus den Akten auf die Bühne‘ hatten die Idee, die Standpunkte der Parteien zur Ausweisungspolitik in der Bremischen Bürgerschaft anhand dieses prominenten Einzelfalls darzustellen. Die „Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft“ sind protokolliert und veröffentlicht worden. Sie sind eine wichtige Quelle zur politischen Kultur in Bremen und zeigen in unserem Fall die Einstellungen der verschiedenen Parteien und ihrer Akteure und Akteurinnen zur Ausweisungspraxis. An diesem Fall und an den Auseinandersetzungen in der Bremischen Bürgerschaft kann auch gezeigt werden, wie angespannt die Beziehungen zwischen den Arbeiterparteien und den bürgerlichen Parteien drei Jahre nach Revolution und Räterepublik noch waren. Mit der (Re)konstruktion der Lebensgeschichte könnte es auch möglich werden, die sozialen und politischen Verhältnisse, in die Johann Geusendam eingebunden war, näher zu beleuchten. Die Akte „3.-A.10. Nr. 186 Johann Geusendam“ enthält Schriftverkehr zwischen Senat, Polizeikommission, Nachrichtenstelle der politischen Polizei und Bürgerschaft. Bei der Lektüre dieser Akten stellten wir uns immer wieder die Frage: Welche Handlungsspielräume bleiben einem Menschen in solchen Situationen?

Biografie ist Bewegung

Die Projektgruppe schlug hauptsächlich drei Wege der Recherchen ein, die teils parallel liefen oder auch eng miteinander verschränkt waren. Erstens ist eine Recherche nach der relevanten Sekundärliteratur zu den Themen erforderlich, die Teil der Biographie sind, zum Beispiel: Geschichte der KPD, Aufbau der politischen Polizei in der Weimarer Republik und der Gestapo nach 1933, Widerstand, Fluchthilfe, Exil in den Niederlanden, Justiz und Strafvollzug im NS-Staat. Die Lektüre dieser Literatur bildet die Grundlage, um die Akteninhalte zu verstehen und beurteilen zu können, welchen Stellenwert das Material hat.
Zweitens stellten wir uns die Frage, in welchen Archiven und Beständen könnten Spuren von Geusendam aufzufinden sein. Wir mussten einen Überblick über die Archivlandschaft, über Hierarchien und Zuständigkeiten gewinnen: Vom Stadtarchiv in Vaihingen über das Staatsarchiv in Münster bis zum Bundesarchiv in Berlin. Enttäuschungen und Erfolgserlebnisse wechselten sich rasch ab und wir mussten auch akzeptieren, dass wir in der zur Verfügung stehenden Zeit (und Mittel!) nicht jeder Spur folgen konnten. Manchmal träumten wir von einer zentralen Stelle, in der alles Material über Geusendam säuberlich geordnet auf uns wartet… .
Aber auch in einem Archiv sind die Akten nicht nach dem „Fall Geusendam“ sortiert und stehen zusammen, da Archive nach dem Provenienzprinzip arbeiten und Akten nach ihrer Herkunft aus Verwaltungen oder Institutionen übernehmen und in dieser Ordnung aufbewahren. Im Staatsarchiv Bremen haben wir vier Akten, die für Johann Geusendam angelegt wurden, in verschiedenen Beständen entdeckt: Senatsregistratur (3-A.10. Nr. 186), Senator für Inneres (4/13/1-A.6, Nr. 3), Nachrichtenstelle der Polizeidirektion (4,65-1832) und Landesamt für Wiedergutmachung (4,54-E 11007). In der Wiedergutmachungsakte „4,54-E11007“ wird aus einer weiteren Akte zitiert, einer Personalakte, die bei der Polizei zu Johann Geusendam geführt wurde. Sie gehörte zum Bestand „4,14: Polizeidirektion“ und ist in den 1960er Jahren mit zahlreichen anderen Personalakten bei der Übernahme in das Staatsarchiv Bremen kassiert, also vernichtet worden. Die Sekundärliteratur enthält (anders als Akten in den Archiven) häufig keine präzisen biographischen Informationen zu einer gesuchten Person – erst recht nicht, wenn es sich um einen ungelernten Arbeiter handelt. Als dritter Rechercheweg empfiehlt sich deshalb auch, Angehörige und einen Freundeskreis aufzuspüren – diese Suche geht manchmal unkonventionelle Wege und greift auch auf Möglichkeiten zurück, die das Internet heute bietet.
Es folgten in unserem Fall Recherchen in verschiedene Richtungen, die sich an den Stationen im Leben von Geusendam orientierten. Biografie ist Bewegung: Das galt für Johann Geusendam und das gilt auch für die Spurensuche nach ihm.
Wenn auch unfreiwillig war er ein Grenzgänger zwischen Deutschland und den Niederlanden. Wir mussten an den Orten suchen, wo Geusendam sich aufgehalten hatte und an denen er oft gewaltsam festgehalten wurde. Dazu gehört neben einem hartnäckigen Spürsinn und einer guten Ausdauer (auch mal zwölf absolut erfolglose und deshalb nervtötende Stunden vor einem flimmernden und ratternden Mikrofilmgerät zu sitzen), vor allem ein guter Plan, an welcher Stelle Quellen gefunden werden könnten. Die Archive in Bremen, Berlin, Münster, Ludwigsburg, Delmenhorst, Vaihingen, Amsterdam und Bad Arolsen dokumentieren unterschiedlich dicht die Umstände seines (Zwangs)aufenthalts in diesen Städten.
Geusendam hat ungefähr 26 Jahre in Bremen gelebt – so lange wie an keinem anderen Ort. Hier hat er geheiratet, eine Familie gegründet und ist Vater zweier Söhne geworden. Die Recherchen in Bremen mussten wir daher auf jeden Fall fortsetzen: Der Beschwerdeakte 3.-A.10. konnten wir entnehmen, dass Geusendam von 1905 bis 1931 verschiedene Arbeitsstellen hatte (Stuhlrohrfabrik, AG Weser, Holzhafen, Kleinhandel), an mehreren Streiks teilgenommen hatte und seit 1920 Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) war.
Zusätzlich haben wir in der Bremer Zeitungen nach Artikeln zu den Verhandlungen der Bürgerschaft gesucht. Unser Eindruck bestätigte sich, dass „der Fall Geusendam“ in Bremen ein ziemlich brisantes Thema gewesen war. Außerdem können Zeitungsartikel ergänzende Informationen zu bedeutenden Ereignissen in der Biografie aus einer anderen Perspektive als aus Akten geben: zum Beispiel zu dem Streik am 1. Mai 1908, an dem Geusendam beteiligt war.
Johann Geusendams Mitgliedschaft in der KPD Bremen ließ uns vermuten, dass es noch weitere Unterlagen zu seiner Überwachung geben könnte. Im Staatsarchiv Bremen ist der Bestand „4,65-Nachrichtenstelle der Polizeidirektion“ überliefert, der umfangreiche Informationen zur KPD in Bremen enthält. Wir bekamen einen Eindruck, in welchem Ausmaß V-Männer diese Partei und einzelne Mitglieder bespitzelt hatten. Hier wird Geusendam oft erwähnt. Die Akte „4,65-1832 Schutzhaft Geusendam, Johann“ gibt Auskunft über seine Festnahme im „Deutschen Oktober“ 1923. Sie enthält in erster Linie den Schriftwechsel zwischen der Bremer Polizei und dem Wehrkreiskommando in Münster, das während des Belagerungszustandes für Bremen zuständig war. Es befindet sich hier außerdem ein Brief von Katharina Geusendam an ihren Ehemann sowie ein ärztliches Attest über einen Nervenzusammenbruch des Häftlings Johann Geusendam. Die Akte enthält auch das Protokoll einer Vernehmung, in der Geusendam angab, von 1915 bis 1919 als Kutscher für die Konsumgenossenschaft gearbeitet zu haben. Ein kurze Recherche in der Beständeübersicht des Staatsarchivs unter „Nichtamtliches Schriftgut“ (mittlerweile online zugänglich) machte einen erneuten Gang zum Archiv notwendig: Die „Konsumgenossenschaft Vorwärts für Bremen und Umgebung“ hat ihre Unterlagen dem Staatsarchiv Bremen übergeben. Unter der Signatur 7,2026 werden auch Personalbücher der 1906 gegründeten Genossenschaft verzeichnet. Und tatsächlich fanden wir eine Liste mit dem Eintrag, dass Geusendam „vom Juli 1915 bis Januar 1919“ als Fuhrmann der Genossenschaft tätig war.
Die Bremer Adressbücher können Aufschluss darüber geben, wo und wann jemand in Bremen wohnte. Die Familie Geusendam ist mehrmals umgezogen, lebte aber die meiste Zeit in Walle. Zugleich entdeckten wir aber auch die nur begrenzte Zuverlässigkeit dieser Quellen, denn Johann Geusendam wurde noch 1935 im Adressbuch geführt. Da die Familie die Stadt im Laufe des Jahres 1931 verlassen hat, handelt es sich hierbei um einen Fehler im Adressbuch. Wenn Firmen, bei denen Geusendam gearbeitet hat, heute noch existieren, kann manchmal auch eine direkte Nachfrage erfolgreich sein. Die Firma „Bremer Polster“, vormals Stuhlrohrfabrik Menck und Schultze öffnete einen Tresor, der alte Fotos und Unterlagen enthielt, – aber leider keine zum Streik in der Stuhlrohrfabrik am 1. Mai 1908.

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Am 15. März 1931 wurde die Familie Geusendam aus Bremen in die Niederlande ausgewiesen. Mehr ist aus der Beschwerdeakte 3.-A.10. Nr. 186 nicht zu erfahren. Wo sollten wir die Suche fortsetzen?
Wie Geusendams Leben nach 1931 weiter ging, fanden wir durch die Literaturrecherche heraus. Der jüngste Sohn der Familie, Wilhelm Geusendam, hat 1985 seine Lebenserinnerungen unter dem Titel „Herausforderungen: KJVD, UdSSR, KZ, SPD“ veröffentlicht. Er beschreibt seine politische Entwicklung und sein Leben, in dem natürlich auch sein Vater Johann auftritt. Das Leben der Familie in Bremen bekam für uns mehr Konturen. Der Sohn ging auch auf die Ausweisung ein, die über 20 Jahre über der Familie schwebte und ihren Alltag bestimmte. Im Wohnzimmer der Arbeiterfamilie hing Bebels Spruch „Nicht betteln, nicht bitten, nur mutig gestritten, nie kämpft es sich schlecht für Freiheit und Recht.“ Sein Vater habe trotz schlechter Schulbildung die sozialistischen Klassiker gelesen.
Auch für die Entwicklung nach 1931 gaben die Erinnerungen wichtige Hinweise. Willi Geusendam hat sich im Sommer 1945 auf die Suche nach seinem Vater gemacht. Auf seinem Weg quer durch das Chaos im Nachkriegsdeutschland kam er schließlich am Ende seiner Reise auf Schloss Kaltenstein, dem Arbeitshaus für Männer in Vaihingen/Enz an. Mit dem Foto des Grabes und der Sterbebescheinigung für seinen Vater kehrte er nach Enschede zurück. Johann Geusendam war nach Aussage des neuen Leiters des Arbeitshauses am 6. April 1945 „nicht mehr transportfähig, von den Wachmannschaften ‚fertiggemacht‘ worden, als die Anstalt geräumt wurde.“
In dem Buch „Bremen im Dritten Reich“ wird Geusendam als „Grenzmann“ erwähnt, der verfolgten Kommunisten in den 1930er Jahren an der deutsch-niederländischen Grenze bei der Flucht aus Deutschland geholfen hatte. Als Quelle für diese Aussage wird auf die Akte „4,54-E11007“ im Staatsarchiv Bremen verwiesen. Es handelt sich hierbei um die Akte des Wiedergutmachungsverfahren, das Katharina Geusendam in den 1950er Jahren angestrengt hatte.
In diesem Ausweisungsfall verliert sich die Spur des Betroffenen nicht nach seiner Ausweisung aus dem Bremer Staatsgebiet, sondern ist bis zu seinem Tod (und sogar darüber hinaus) dokumentiert.

In der Wiedergutmachungsakte „4,54-E11007“ befindet sich die Anklageschrift gegen Johann Geusendam vor dem Volksgerichtshof (VGH) aus dem Jahr 1942 und das Urteil wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Daraus resultierten zwei weitere Suchwege:
Erstens konnte eine Anfrage beim Archiv „International Tracing Service“ (ITS) in Hessen nützlich sein – dieser Suchdienst klärt Schicksale von Opfern der Naziverfolgung und verwahrt in einer zentralen Namenskartei über 50 Millionen Hinweise für über 17,5 Millionen Menschen. Hier liegt eine Häftlingskarte aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden, die den Gefangenen Geusendam als „aus Sicherheitsgründen nicht außenarbeitsfähig“ einstuft.
Zweitens kam vom Bundesarchiv Berlin die gute Nachricht, dass sechs Vollstreckungsbände zu Johann Geusendam vorhanden sind. Hier trägt der Fall Geusendam die Signatur VGH/Z-2027, A.1-6. Die Bände dokumentieren die Arbeitsweise von Justiz und Strafvollzug im Nationalsozialismus. Sie enthalten: Informationen zu Geusendams Festnahme an der deutsch-niederländischen Grenze, Aufzeichnungen der Verhöre, Zeugenaussagen, Anklageschrift und das Urteil des Volksgerichtshofes.
Anhand der beiliegenden ‚Transportzettel’ lässt sich ermitteln, wie lange Geusendam an welchen Orten festgehalten wurde. Außerdem fanden wir in einem der Vollstreckungsbände endlich weitere handschriftliche Dokumente von Geusendam; sie stechen aus den bürokratischen Schriftstücken deutlich hervor.

Die Lektüre der Akten aus dem Bundesarchiv führte uns zeitlich wieder einen Schritt zurück, und zwar an die deutsch-niederländische Grenze in den 1930er Jahren: Die Internetrecherche zu „Geusendam“ stellte einen wichtigen Kontakt in die Niederlanden her. Im April 2005 brachte die Tageszeitung „De Twentsche Courant Tubantia“ aus Enschede einen Artikel über Roelof Ijspeerd, der in Schulklassen über den Widerstand in der Region Overijssel berichtet. In diesem Artikel wurde auch Geusendam erwähnt. Wir nahmen Kontakt mit Ijspeerd auf und er schickte uns Fotos von dem Ehrengrab, das 1955 mitten während des Kalten Krieges für den Kommunisten Geusendam auf dem Friedhof in Enschede errichtet wurde. Darüber hinaus stellte er den Kontakt zu den Angehörigen von Johann Geusendam her, die in der Nähe von Enschede leben. Bald darauf bekamen wir einzelne private Fotos – der „Fall Geusendam“ erhielt endlich ein Gesicht.
Im Oktober 1940 war Geusendam durch die Gestapo in Enschede festgenommen und über Gronau nach Münster verschleppt und dort inhaftiert worden. Im Staatsarchiv Münster und im Stadtarchiv Münster wurden außer Fotos der Gebäude keine weiteren Quellen gefunden. Doch das Staatsarchiv Osnabrück besitzt eine Kartei der Gestapo, in der auch Personen erfasst sind, die für das Verfahren gegen Geusendam relevant waren. Im Gefängnis von Osnabrück waren weitere Fluchthelferinnen und Fluchthelfer inhaftiert, die als Zeugen vernommen worden waren.
Die weiteren Stationen Johann Geusendams wurden durch die Akten des Bundesarchivs bestätigt und präzisiert. Nach der Verurteilung war Geusendam zwei Jahre im Zuchthaus Brandenburg-Görden inhaftiert, dessen Gefangene in dieser Zeit zu über 50 % aus politisch Verfolgten bestand. Im Juli 1944 wurde er mit 50 anderen Häftlingen in das Arbeitshaus Schloss Kaltenstein in Vaihingen/Enz transportiert. Die Häftlingsakte, die Johann Geusendam von Münster über Berlin nach Brandenburg und Vaihingen/Enz begleitet haben muss, wurde nicht gefunden, da die Überlieferung der Akten des Arbeitshauses noch nicht geklärt ist. Außer den Haftzeiten von Oktober 1940 bis April 1945 wissen wir fast nichts über sein Leben in diesen Jahren. Über die Haftbedingungen geben jedoch Erinnerungen anderer Gefangener Auskunft. Außerdem wurde gegen das Personal des Arbeitshauses Vaihingen 1953 vor dem Landgericht Heilbronn der Prozess geführt. Diese Akten liegen im Staatsarchiv Ludwigsburg und enthalten zahlreiche Zeugenaussagen.

Von der Sowjetunion war mein Vater tief enttäuscht, obwohl er nie darüber sprach. Dem Gedanken der Solidarität blieb er treu. Als Hitler sein braunes Mordregime errichtet hatte, half er Verfolgten verschiedenster politischer Richtungen über die grüne Grenze und bei der Suche nach einer vorläufigen Bleibe. Dafür zahlte er mit seinem Leben.
(Wilhelm Geusendam: Herausforderungen. Kiel 1985, S. 96.)

Die Recherche zur Biografie Geusendams zog ziemlich weite Kreise – und doch stehen wir noch nicht am Ende der Suche. Willi Geusendam beschreibt in seinen Erinnerungen die Ereignisse der Novemberrevolution 1918/1919 in Bremen und schildert seinen Vater als aktiven Teilnehmer im Umfeld der Bremer Linksradikalen um Johann Knief. Hier müssen wir noch weitersuchen. Außerdem berichtet er über den Versuch seines Vaters, nach der Ausweisung in der Sowjetunion einen Arbeitsplatz zu finden. Im Archiv des Instituts für Kriegsdokumentation in Amsterdam (N.I.O.D.) befinden sich Dossiers der Gestapo mit Verhaftungsbefehlen gegen Geusendam und weitere Personen.
An solchen Punkten stellt sich die Frage, wie Zeit- und Mittelaufwand im Verhältnis zu den zu erwartenden Ergebnissen stehen – obwohl eine Archivreise nach Moskau oder Amsterdam sicherlich großartig gewesen wäre. Es gibt ständig neue Fragen zur Person Johnn Geusendam, aber ebenso wird auch klar, dass viele Seiten dieser Biografie im Dunkeln bleiben werden – egal wie viele Stunden wir noch in Archiven zwischen Moskau, Berlin, Vaihingen/Enz und Amsterdam verbringen werden.

Fazit

Wie ein roter Faden durchzieht die Konfrontation mit Anschuldigungen durch den Staat das Leben von Johann Geusendam – ohne dass ihm je ausreichende (und erst recht keine rechtlichen) Mittel zu einer eigenen Gegendarstellung zur Verfügung gestanden haben. Ein entscheidender Aspekt dieser Biografie fehlt: die Sicht des Protagonisten selbst auf sein Leben. Außer den wenigen, unter Druck verfassten Dokumenten, in denen Geusendam um die Aufhebung seines Ausweisungsbescheides oder um Hafterleichterungen bittet, fehlen „Ego-Texte“. Individuelle Ansichten oder Denkmuster können anhand dieser vorhandenen Schriftstücke kaum erahnt werden. Ein einziger Brief an Katharina Geusendam, geschrieben aus der Haft in Münster, ist überliefert. Sie legte diesen Brief dem Landesamt für Wiedergutmachung als Beweis für die Verfolgung ihres Mannes vor.
Die Biografie wurde zum überwiegenden Teil mit Aussagen über Johann Geusendam rekonstruiert – seine Rolle in diesem Drama ist eine passive, denn seine Gegenspieler bringen ihre Version in den Akten zum Ausdruck. Aber anders wäre Geusendams (politisches) Leben vermutlich gar nicht mehr zu rekonstruieren – gerade deshalb nämlich, weil so viele Akten über ihn, aber fast keine Ego- Dokumente von ihm existieren, ist es Außenstehende letztlich kaum möglich, Aussagen über Geusendams Persönlichkeit, seine Ansichten, seine Gefühle und seinen Umgang mit Menschen zu treffen.
Im 20. Jahrhundert hat es wahrscheinlich viele Menschen mit ähnlichen Schicksalen wie Johann Geusendam gegeben. Insofern ist es ein Glücksfall, dass dieser Lebensweg – wenn auch mit ziemlich viel Aufwand und etwas kriminalistischem Gespür – überhaupt so weit rekonstruiert werden konnte.
An vielen Eckpunkten seiner Biographie werden Themen, wie zum Beispiel Streiks und die Vorgehensweise der Polizei in Bremen oder aber Netzwerke der deutsch- niederländischen Fluchthilfe konkret. Wir sind näher am Geschehenen und nehmen Brüche, Übergänge oder Kontinuitäten stärker wahr.
Die Akten sind in einem Zeitraum von fünf Jahrzehnten unter vier unterschiedlichen politischen Systemen entstanden. Die Behörden und ihre Beamten haben in das Leben der Familie Geusendam immer wieder eingegriffen. Er, der „lästige Ausländer“ wurde ständig belästigt: Ausweisung, ständige Überwachung, Schutzhaft, Verhöre, erneute Ausweisung. Und am Ende schließlich das völlige Ausgeliefertsein an die Willkür der Justiz und des Strafvollzugs im NS-Staat.
Johann Geusendam blieb, so schreibt sein Sohn, seiner Überzeugung treu und musste für „seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn“ mit dem Tod bezahlen.

Hanno Jochemich